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Theorie: Willkommen

Entwicklungen im Bereich der alternativen Freizeitgestaltung 

Autor: Tom Zewe

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Von der klassischen zur alternativen Freizeitgestaltung

Die Gestaltung der Freizeit hat in den letzten Jahrzehnten für viele Menschen stark an Bedeutung gewonnen. Moderne Gesellschaften entwickeln sich zunehmend zu einer Freizeitgesellschaft, was unter anderem mit strukturellen Wandlungsprozessen, wie Arbeitszeitverkürzungen, aber auch mit einer Steigerung des Wohlstandes zusammenhängt (vgl. Bodi-Fernandez/ Dimitri Prandner 2019, S. 303). Die Freizeitgestaltung kann dabei sehr unterschiedlich ausfallen, so gehören Kultur- und Musikveranstaltungen ebenso zu den typischen Freizeitaktivitäten, wie bspw. verschiedene Sport- und Bewegungsarten ob an der frischen Luft, in der Halle, im Wald oder auf einem Sportfeld. Aus diesem allgemeinen Trend entwickelten sich im Laufe der Zeit auch alternative Praktiken der Freizeitgestaltung heraus. Wie diese Entwicklung in Rheinland-Pfalz abläuft und welche Akteure hier zu den Pionieren des Wandels gezählt werden können, wird in den darauffolgenden Teilen näher erläutert.

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Die Entwicklung zur postmodernen Freizeitgesellschaft

Das Freizeitverhalten der Menschen hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert. In den letzten ca. 40 Jahre veränderten sich die Werte innerhalb der Bevölkerung deutlich. So lagen die Wertvorstellungen der Menschen bis Ende der 1960er Jahre auf den traditionellen Arbeitstugenden mit dem Streben nach Erfolg, Leistung und Anerkennung, sowie Besitz, Eigentum und Vermögen. Diese wurde in den 1970er und 1980er Jahren durch die postmaterielle Tendenz ergänzt, die mehr gesellschaftliches Engagement, sowie Genuss und Selbstverwirklichung in den Vordergrund stellte. Ein erneuter Wandel erfolgte dann in den 1990er Jahren mit neuen Freizeitwerten, bei denen für viele Menschen vor allem Lebensgenuss, Spaß und Freude am Leben, aber auch das Pflegen von Sozialkontakten und Gemeinsamkeit eine wichtige Rolle spielt. Viele Leute haben durch diesen Prozess neue Fähigkeiten entwickelt, zu denen eine höhere Spontanität, mehr Selbstentfaltung, sowie mehr Eigeninitiative zum aktiv sein, zählen (vgl. Gather, M. /Kagermeier, A. 2002, S. 119).

 

Freizeit wird in der heutigen, modernen Gesellschaft nicht mehr als reine Regenerations-maßnahme betrachtet, sondern ist für die meisten ein eigener Gestaltungsbereich in ihrem Leben geworden (vgl. Isengard, B. 2005, S. 1). Die Entwicklung zu einem höheren Maß an Freizeit, finanziellen Mitteln und Konsummöglichkeiten, ist auf die Arbeitszeitverkürzungen, eine allgemeine Wohlstandssteigerung und den technischen Fortschritt zurückzuführen. Beim Zusammenhang zwischen sozialer Lage und Lebensstil gegenüber dem Freizeitverhalten, lässt sich weitestgehend eine Entkopplung feststellen. Hierfür sprechen auch die zunehmenden Individualisierungstendenzen vieler Menschen, ohne soziale und ökonomische Bedingtheiten der Aktivitäten (vgl. Isengard, B. 2005, S. 1). 

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Das Verhältnis von Arbeit, Gesellschaft und Freizeit, hat sich in letzter Zeit erneut verändert und künftig sind neue Formen der Arbeitsorganisation, des Arbeitsverhältnisses und des Austauschs und der Zusammenarbeit zwischen den Mitarbeitenden zu erwarten. Beispielsweise wird ein breites Spektrum zwischen klassischen Arbeitsplätzen im Bürogebäude und neuen Arbeitsformen und -orten, wie z.B. Home-Office entstehen. Vor allem die neue Arbeitsform des Home-Office, die dank der fortschreitenden Digitalisierung immer mehr zu einer Alternative gegenüber dem klassischen Arbeitsplatz im Büro wird, spielt in Sachen Freizeitgestaltung eine entscheidende Rolle. Durch die Arbeit von „zu Hause“ erhält der Arbeitnehmer mehr Spielraum in seiner persönlichen Freizeitgestaltung, zum einen durch die Einsparung der Fahrzeit zur Arbeitsstelle, zum anderen aber auch aufgrund der höheren Flexibilität in der Aufteilung der Arbeitszeiten. Es wird ein neues Verhältnis zwischen Erwerbsarbeit und der übrigen Zeit geben, die bisher nicht ausschließlich „freie“ Zeit war (vgl. Anders, S. et al. 2017, S. 16). Dadurch entstehen vor allem in zentralen urbanen Quartieren neue Kombinationen von Erwerbsarbeit, Familien- und gesellschaftlicher Arbeit mit Erholung und Freizeit, was sich bereits in den dort ansässigen Cafés und Sharing-Offices widerspiegelt. Diese urbanen Zentren können durch die ablaufenden Veränderungen eine neue Bedeutung als Standort verschiedener Formen von Arbeit, aber auch vor allem gesellschaftlicher Aktivität und Freizeit (vgl. Anders, S. et al. 2017, S. 16).

 

Die hier ablaufenden Veränderungen in diesem Bereich werden häufig auch als „postmoderne Freizeit- und Lebensstile“ bezeichnet. In diesem Zusammenhang ist die fortschreitende Globalisierung als umfassendster Einflussfaktor zu bezeichnen, vor allem die kulturelle Globalisierung löst eine Vervielfältigung kultureller Angebote aus. Jedoch lassen sich wieder vermehrt Tendenzen zu einer Regionalisierung feststellen. Die Menschen vollziehen eine Rückbesinnung auf das Regionale und Lokale, wodurch trotz der fortschreitenden Globalisierung keine Ausbildung einer global einheitlichen Weltkultur zu erwarten ist. Dazu beruhen die traditionellen Werte häufig zu sehr auf regionalspezifischen Eigenheiten, weswegen die Globalisierung vor allem zu einer Stärkung regionaler und lokaler Wertesysteme führen wird (vgl. Schröder, A. 2005, S. 108f.)

 

Transformative Kultur- und Freizeiteinrichtungen in Rheinland-Pfalz

Auch im Freizeitsektor gibt es „Pioniere des Wandels“, die – mit unterschiedlichem Ausmaß – zu einer Transformation beitragen. Während die überwiegende Anzahl der Initiativen im Bereich der Ökologischen Modernisierung liegen (z.B. sanfter Tourismus, Gastronomie) gibt es zunehmend Akteure, die einen transformativen Charakter aufweisen. Dazu gehören zum Beispiel solidarisch finanzierte Bars oder Gasthöfe, bei denen Getränke und Essen gegen einen selbstbestimmten Unkostenbeitrag verzehrt werden können. Hierbei wurde insbesondere das Fatal Landau in den Bereich „Alternatives Wirtschaften“ kategorisiert. Im Tourismussektor bieten die Akteure vor allem nachhaltigen, aber auch integrativen Tourismus an. Bei Erlebnissen der Freizeitanbieter steht der naturbewusste, nachhaltige und gemeinschaftliche Gedanke im Vordergrund. Im Kultur- und Veranstaltungsbereich sind vor allem Initiativen vorzufinden, die auf solidarischer Basis Kulturveranstaltungen organisieren (Konzerte, Aufführungen, gemeinsame Abende).

 

Darüber hinaus befinden sich im Bereich Freizeit auch viele „etablierte Pioniere des Wandels“, die also mit ihrem Handeln schon seit vielen Jahrzehnten ein solidarisches Leitbild verfolgen. Dazu zählen vor allem verschiedene Arten von organisierten Vereinen, wie bspw. Sport-/Theater- oder Musikvereine. Diese werden ebenfalls durch Mitgliedsbeiträge oder Spenden solidarisch finanziert und bieten ihren Mitgliedern dafür im Gegenzug ein breites Spektrum an Sport- oder Kulturangeboten. Aufgrund der großen Anzahl dieser klassischen Vereine, die in beinahe jedem Ort aufzufinden sind, wurde im Zuge des Mappings auf die Auflistung dieser verzichtet. Jedoch ist ausdrücklich zu erwähnen, dass auch diese als „Pioniere des Wandels“ bezeichnet werden können, wenn auch in ihrer Anfangs- bzw. Ursprungsform.

 

Libertärer Infoladen/ Kulturtreff Eselsohr Kaiserslautern

Von den erfassten Pionieren des Wandels, stellte sich der libertäre Infoladen & Kulturtreff Eselsohr in Kaiserslautern als besonders transformativ heraus. Die Initiative entstand aus einer politischen Gruppe, die in verschiedenen Bereichen aktiv war, u.a. Bildung, Demos, Konzerte, mit dem Wunsch „dass eine Infrastruktur da ist, auf die man zurückgreifen kann, [..] etwas handlungsfähiger ist und Sachen ermöglichen kann, die nicht möglich sind, wenn man sich z.B. [..] an andere Institutionen, wie die Uni, wenden muss um Räume zu mieten [..].“ (Interview Eselsohr 15.12.2021).

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Die Organisation findet dabei selbstorganisiert, basisdemokratisch, nachhaltig und mit alternativen Gegenkulturen. Alles wird nach dem Bottom-Up-Prinzip organisiert, die Entscheidungsfindung erfolgt ohne Hierarchien, nur Kompetenz-Hierarchien und findet ausschließlich in der Gruppe statt. Die Initiative finanziert sich ausschließlich über Spenden, wodurch die Miete und die laufenden Kosten, sowie die Ausgaben für Veranstaltungen gedeckt werden. Das Eselsohr hat im Zuge dessen zu einer Solidaritätsaktion aufgerufen, bei der Menschen, die das Eselsohr gerne unterstützen möchten und hinter dem Projekt stehen, einen ihnen freistehenden monatlichen Betrag, spenden können (vgl. Interview Eselsohr 15.12.2021). Das Eselsohr will mit seinen Veranstaltungen für jede Personengruppe ansprechen. So werden Bildungsvorträge häufig mehrheitlich von älteren Personen besucht, wohingegen vegane Brunches oder auch die Kneipenabende vor allem jüngeres Publikum anziehen.

 

Die Veranstaltungen finden hauptsächlich in den Räumlichkeiten des Eselsohr selbst statt, im Sommer bietet sich zusätzlich die Möglichkeit, Maifeste, Sommerfeste und Umsonst-Flohmärkte auf dem davorliegenden Platz durchzuführen. Die Veranstaltungen werden über kleine Plakate angekündigt, Mundpropaganda und vor allem auch über den Internet- und Social-Media-Auftritt (Facebook, Instagram, Website etc.). Darüber hinaus findet eine Vernetzung und Zusammenarbeit mit anderen lokalen, alternativen Gruppen statt. Das Ziel ist, auf der regionalen Ebene diese Netzwerkbildung zu stärken (vgl. Interview Eselsohr 15.12.2021).

 

Haus Mainusch Mainz

Ein weiterer Pionier des Wandels ist das Haus Mainusch in Mainz. Hierbei handelt es sich um eine Kultur- und Begegnungsstätte, bei der jeder die Möglichkeit seine eigenen Veranstaltungen zu organisieren und durchzuführen in den Räumlichkeiten der Initiative. Ebenso wird für politische Parteien ein unentgeltliches Platzangebot zur Durchführung von Plenarsitzungen, Parteiabenden etc. zur Verfügung gestellt. Die Initiatoren selbst sind auch politisch engagiert und verorten sich selbst im „linksradikalen“ Bereich. Das Projekt wird auf solidarischer Basis, mit Hilfe von Spenden finanziert und ist rund um die Uhr öffentlich zugänglich.  (vgl. Interview Haus Mainusch 20.12.2021).

 

Regionale Verteilung der Initiativen in Rheinland-Pfalz

Das Eselsohr in Kaiserslautern, als auch das Haus Mainusch in Mainz befinden sich in studentisch geprägten (Groß-)Städten in Rheinland-Pfalz. Ebenso der Kultur- und  Veranstaltungstreff Fatal in Landau, der auf dem dortigen Universitätsgelände zu finden ist. Daraus lässt sich schließen, dass ein Großteil der alternativen Kulturzentren im studentischen Umfeld zu finden sind. Dahingegen lassen sich Mehrgenerationen- und Dorfcafés, eher in den ländlichen Raum verorten. In diesem Kontext sind vor allem der Tante Emma Laden in Arzheim, mit dem dazugehörigen Wohnzimmer, sowie das Kaffee Kaputt in Gau-Algesheim, das als Begegnungs- und Veranstaltungsraum genutzt wird, zu nennen.

 

Eine Einordung: Der Freizeitsektor in Rheinland-Pfalz schon transformativ genug?

Die Transformation von alternativen Praktiken der Freizeitgestaltung läuft bisher vergleichsweise langsam voran, verglichen mit anderen Sektoren wie Arbeiten, Wohnen oder Versorgung. Während des Mappings, das innerhalb jeder Gruppe durchgeführt wurde, spiegelte sich bereits die oftmals fehlende solidarische Denkweise wider. Viele Akteure die im Bereich Gastronomie, Tourismus und der Kultur- und Veranstaltungsbranche tätig sind, verfolgen das klassische Geschäftsmodell. Auch wenn davon einige ihre Betriebe auf Nachhaltigkeit ausrichten, konnten sie nicht unter die Kategorie „Alternatives Wirtschaften“ verordnet und als „Pioniere des Wandels“ bezeichnet werden. Vor allem im Tourismussektor, der sich in den letzten Jahren in eine neue Richtung (sanfter Tourismus, Nachhaltigkeit) entwickelt hat, sind viele solcher Akteure identifiziert worden. Hier findet insbesondere eine „Ökologische Modernisierung“ in vielen Betrieben statt, aber nur in geringem Umfang transformative Praktiken. Jedoch muss abschließend erwähnt werden, dass viele Menschen trotz alledem ihre Freizeit häufig in Gemeinschaft gestalten. Dies geschieht häufig im Ehrenamt, wie bspw. der Vereinsarbeit, die in diesem Sektor als etablierter Pionier des Wandels bezeichnet werden kann. Diese Strukturen sind in den meisten Fällen solidarisch finanziert und werden durch ehrenamtliche Arbeit getragen, weshalb von einer Anfangs- bzw. Ursprungsform des transformativen Handelns gesprochen werden kann.

 

Literatur

Anders, S. /Kreutz, S. /Krüger, T. (2017): Transformation urbaner Zentren. Den „Marktplatz neu definieren. Schwerpunkt Planer_in, Ausgabe 6,  Jahr 17.

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Bodi-Fernandez, O. /Prandner, D. (2019): Zur Bedeutung und Gestaltung von Freizeit. Springer Nature 2019. J. Bacher et al. (Hrsg.), Sozialstruktur und Wertewandel in Österreich, Wiesbaden, S. 303-329.

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Eisenstein, B. et al. (2021): Tourismusatlas Deutschland. UVK Verlag. München.

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Gather, M./Kagermeier, A. (2002): Freizeitverkehr. Hintergründe, Probleme, Perspektiven. Studien zur Mobilitätsforschung. Band 1.

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Isengard, B. (2005): Unterschiede im Freizeitverhalten: Ausdrucksozialer Ungleichheitsstrukturen oder Ergebnisindividualisierter Lebensführung? DIW Discussion Papers, 466.

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Schrader, K. /Stehn, J. /Laaser, C.-F. (2020): Urlaub in Corona-Zeiten: Perspektiven für den Tourismus in Deutschland. Kiel Policy Brief, No. 140, Kiel.

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