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Theorie: Willkommen

Arbeit als multilaterales Transformationsfeld

Autoren: Marvin Klingberg, Julian Werner und Tom Fiergolla

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Auslaufmodell klassische Erwerbstätigkeit?

Seit 30 Jahren wird bereits darüber diskutiert, anders arbeiten zu wollen. Wir brauchen Veränderung in sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen – so auch in der Arbeitswelt. Viele Beschäftigte arbeiten bis zum Burnout, während andere jahrelang keine Erwerbsarbeit haben oder trotz Erwerbsarbeit prekär leben. Zugleich tritt angesichts der Ressourcen- und Klimakrise immer deutlicher hervor, dass Wohlergehen nicht weiterhin mit hohem Ressourcenverbrauch Hand in Hand gehen darf und Wohlstand gerechter verteilt werden muss. Theoretische Ideen und Ansätze gibt es in verschiedenen Formen, ihre Umsetzung erfolgt jedoch nur selten außerhalb gesellschaftlicher Nischen. Die Verkopplung von Wachstum und Erwerbsarbeit ist tief in unserer Gesellschaft, unserer Kultur und Institutionen verankert. In jüngeren Generationen ist jedoch ein verstärkter Wertewandel und eine Abkehr vom Nine-to-five Alltag zu beobachten (vgl. Spangenberg 2011, S.7; Biesecker und Baier 2011, S. 54). Nachfolgend wird im Unterkapitel Arbeiten dargestellt, was eine Transformation für diesen Sektor bedeutet und welche Hürden dabei auftreten. Außerdem werden Initiativen aus Rheinland-Pfalz betrachtet, die sich durch ihr erweitertes Verständnis von Arbeit auszeichnen und als Pioniere in diesem Bereich bezeichnet werden können.

 

Arbeitsgesellschaften im Wandel

Die Arbeitsgesellschaft befindet sich im Wandel. Globalisierung und der Prozess der Digitalisierung von Produktion, Wirtschaft und Konsum steigern die Diskrepanz zwischen herkömmlichen normativen Vorstellungen von Arbeit und ihrer faktischen Form. Digitale Technologien verändern Branchen und Tätigkeiten. Dabei entstehen vielfältige Herausforderungen für die Aufrechterhaltung und Förderung menschenwürdiger Arbeit (vgl. Wissenschaftsplattform_Nachhaltigkeit2030 2020, S. 6).

 

Ein Großteil der neu entstandenen Arbeitsplätze sind befristet, unfreiwillige Teilzeitarbeit, verlangen unbezahlte Mehrarbeit oder betreffen schlecht bezahlte Dienstleistungen. Trotz allem behält die Erwerbsarbeit ihren zentralen Stellenwert: Sie verbindet Einkommen, Menschen und Tätigkeiten – sichert gleichzeitig Prestige und Lebensstandard sowie soziale Kontakt und Kommunikation und trägt damit wesentlichen zur Lebensqualität und gesellschaftlichem Stellenwert bei (vgl. Spangenberg 2011, S. 15f.).

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Die Angst vor Einkommens- und Statusverlust betrifft noch weit größere Anteile der Bevölkerung als die objektive Prekarisierung. Diese Verunsicherung führt damit auch zu Erpressbarkeit, mit der Folge, dass beispielsweise unbezahlte Mehrarbeit widerspruchlos angenommen und das alltägliche Privatleben durch ständige Bereitschaft und Anspannung unmittelbar eingeschränkt wird (vgl. Spangenberg 2011, S. 18).

 

Trotz der engen Verknüpfung von Arbeit und natürlicher Umwelt bleiben verschiedene Konzepte und Strategien auf ihre sozialen und wirtschaftlichen Dimensionen begrenzt. In der modernen industriellen Erwerbsgesellschaft sind negative Umwelteinflüsse und die nicht nachhaltige Nutzung von Natur enorm angestiegen. Die digitale Revolution bringt diesbezüglich keine Kehrtwende, auch die Wissens- und Informationsgesellschaft verursacht enorme Emissionen und benötigt expansiven Zugriff auf Ressourcen. Die Zerstörung der natürlichen Umwelt hat dabei einen häufig vernachlässigten Effekt auf das Leben und Wirtschaften von Gesellschaften (vgl. Wissenschaftsplattform_Nachhaltigkeit2030 2020, S. 8).

 

In puncto der Gleichberechtigung ist die Schieflage zwischen gut- und schlechtbezahlter Erwerbsarbeit immer noch eine der Schlüsselfragen. Sie hat einen großen Einfluss auf soziale Teilhabe, finanzielle Autonomie und individuelles Selbstbewusstsein. Frauenerwerbsarbeit ist geprägt vom Niedriglohnsektor und Teilzeitarbeit, obwohl Frauen als Bildungsgewinnerinnen gelten und ihren männlichen Altersgenossen oft mit besseren und höheren Abschlüssen gegenüberstehen. Zudem wollen auch vermehrt Männer Veränderung in der einseitig ausgerichteten Arbeitswelt, indem sie zum Beispiel mehr Zeit für Familie und Freizeit haben (vgl. Pothmer 2011, S. 34ff.).

 

Arbeit ist, was gut bezahlt wird! Diese Antwort spiegelt die gesellschaftlichen Werte Vieler wider. Oftmals ist es nicht im Bewusstsein der Gesellschaft sowie der Politik angekommen, dass soziale Aufgaben wie die Kinderbetreuung, die Erziehung, die Pflege von Familienmitgliedern oder Hausarbeiten ebenfalls Arbeit ist. Auch wenn sie sich über den herkömmlichen Markt nur schwer ein Wert zuordnen lassen. Eine gesellschaftliche Weiterentwicklung ist deshalb unabdingbar. Konventionen wie „Einkommen ist die Bezahlung von Arbeit“ müssen aus den Köpfen der Menschen verschwinden. Menschliche Arbeit kann man nicht messen, sondern mittels eines Einkommens ermöglichen (vgl. Goehler und Werner 2011, S. 77).

 

Die Erwerbsarbeit lebt von sozialen Voraussetzungen, die sie selbst nicht herstellen kann. Insbesondere die Care- oder Sorgearbeit als gesellschaftliche Hintergrundbedingung bleibt für die soziale Reproduktion elementar. Sorgearbeit ist in allen Lebensphasen notwendig. Wie Erwerbsarbeit ist auch diese Verausgabung, auch wenn sie nicht auf die instrumentelle Herstellung eines bestimmten Zustands abzielt. Die Kompetenzen für Sorgearbeit werden häufig als spezifisch weibliche Natureigenschaft unterstellt. Damit ist auch eine deutliche Unterordnung von Sorgearbeit unter Erwerbsarbeit verbunden. Auch wenn diese asymmetrische geschlechterspezifische Arbeitsteilung zumindest in den westlichen, hochentwickelten Staaten kulturell und institutionell nachgelassen hat, gibt es immer noch Defizite (vgl. Senghaus-Knobloch 2011, S. 27).

 

Um aus den zuvor genannten Problemstellungen Arbeit als Transformationsfeld erläutern zu können, erscheint es zunächst sinnvoll, den Arbeitsbegriff, wie er in wachstumsgeprägten Gesellschaften geläufig ist, zu erweitern. In der Literatur wird vermehrt der Begriff des Tätigseins verwendet, um das ökonomische Verständnis von klassischer Erwerbs- beziehungsweise Lohnarbeit zu relativieren. Das dominierende Verständnis von Arbeit, welches diese neben Kapital und Boden als Produktionsfaktor und dementsprechend als Punkt zu Kostenreduktion sieht und versteht, wird der tatsächlichen Vielfalt von Arbeit, welche wir in unserem alltäglichen und gesellschaftlichen Leben verrichten, überhaupt nicht gerecht (Seidl und Zahrnt 2019, o.S.).

 

Arbeit sollte weder als Kostenfaktor zur Beeinflussung der Wettbewerbsfähigkeit von Unter-nehmen verstanden werden, noch an ein Menschenbild gekoppelt sein, das Arbeit als reines Mittel zur Bedürfnisbefriedigung durch Lohnerwerb ansieht. Der Begriff des Tätigseins umfasst daher neben herkömmlicher und entlohnter Erwerbsarbeit auch unbezahlte Versorgungs-, Gemeinschafts- und Subsistenzarbeit. Vor allem unbezahltes Tätigsein ist „äußerst vielfältig und kann existentiell sein (Sorge um Kinder, Kranke, Hausarbeit)“ (ebd.). Unbezahlte Arbeit wird durch Uneigennützigkeit koordiniert, bei bezahlter Arbeit leistet der Markt die Koordinierung. Tätigsein soll die funktionale Arbeitsteilung in industriellen Arbeitsgesellschaften überwinden und ein integriertes Arbeiten und Leben bei einer Gleichzeitigkeit unterschiedlicher gesellschaftlicher Aktivitäten ermöglichen. Des Weiteren „findet Tätigsein schließlich in einem Kontext statt, in dem Menschen ihre Fähigkeiten, Fertigkeiten und Interessen verwirklichen können, in der sie eigene Bedeutung erfahren und in den sozialen Beziehungen gelebt werden.“ Durch Tätigsein kann ein Bezug zu Lebenswelt und Gesellschaft (wieder-)hergestellt werden, welcher in vielen Berufen in modernen Dienstleistungsgesellschaften komplett abhandengekommen ist (ebd.).

 

Erwerbsarbeit ist in unserer Gesellschaft eng an Wirtschaftswachstum gekoppelt. Das 1967 in Kraft getretene Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft strebt bis heute neben einem stabilen Preisniveau, einem außenwirtschaftlichen Gleichgewicht und einem stetig angemessenen Wirtschaftswachstum auch einen hohen Beschäftigungsgrad (Vollbeschäftigung) an. Bund und Länder berücksichtigen das Gesetz bei wirtschaftspolitischen Entscheidungen bis heute.

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Gleichzeitig verfolgt die gegenwärtige Wirtschaftspolitik das Ziel, durch die gezielte Förderung von technischem Fortschritt und Innovation die Arbeitsproduktivität zu erhöhen, sodass entweder pro Arbeitsstunde ein höherer Output möglich ist oder ein bestimmter Output mit einem geringeren Arbeitsaufwand erzielt werden kann. In der dominierenden, neoklassischen Denkschule führt die optimierte Arbeitsproduktivität zu einer steigenden Wettbewerbsfähigkeit durch niedrigere Preise und letztendendes zu volkswirtschaftlichem Wachstum.

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Weiterhin ist die Bundesrepublik Deutschland enorm an Steuer- und Sozialabgaben gebunden, 65% des gesamten Abgabenaufkommens sind abhängig von Erwerbseinkommen (27% Einkommenssteuer, 38% Sozialabgaben auf Arbeit). In Anbetracht dieses Abgabensystems ist es verständlich, dass ein breites Interesse an hohen Löhnen und Erwerbsbeteiligung besteht (vgl. Seidl und Zahrnt 2019, o.S.).

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Mehr als eine Nummer im System? Anders Arbeiten in der Praxis

Im folgenden Abschnitt wird nun abschließend geklärt, inwiefern bei den in RLP verorteten Pionieren des Wandels ein erweitertes Arbeitsverständnis vorzufinden ist. Arbeit durchzieht jedes Transformationsfeld, und ist daher von besonderer Relevanz. Daher ist es schwierig, konkrete Pioniere des Wandels aus dem Transformationsfeld Arbeiten zu identifizieren. Einige Akteure, vermehrt aus dem Bereich der Sharing-Economy (Coworking-Spaces, Makerspaces) wurden interviewt. Einer dieser Akteure, Betreiber des Coworking Spaces ZWO65 Trier, erwähnte, sich selber nach mehr als 15 Jahren in einem klassischen Angestelltenverhältnis die Frage gestellt zu haben, ob es nicht noch andere Arbeitsformen geben würde: „[…] 14 Jahre nach Luxemburg hin und her gependelt, und du bist ja nur ‘ne Nummer in einem großen Konzern, du hast so viele Ideen […] aber die Ideen werden immer unter den Tisch gekehrt. Irgendwann stellst du dir die Frage […] gibt’s nicht noch andere Arbeitsformen?“ Anhand dieser Aussage kann ein Wunsch nach Selbstverwirklichung interpretiert werden, wie es das Tätigsein beschreibt.

 

Darüber hinaus wurden empirische Ergebnisse der anderen Gruppen herangezogen und auf ein erweitertes Verständnis von Arbeit untersucht. In einem Interview mit der Ansprechperson für Umwelt und Nachhaltigkeit der Essbaren Stadt Andernach spricht dieser darüber, dass der Leiter des Andernacher Sozialamtes „auf der Suche nach sinnstiftenden Arbeiten für die Teilnehmer“ ist. Er argumentiert, dass Gärtnern aufgrund der Interaktion mit anderen Personen eine sehr wertvolle Tätigkeit ist. Der Aspekt der Gemeinschaftsarbeit des Tätigseins kommt hier zur Geltung. Einen weiteren Punkt, den er nennt, ist dass man am Ende einer Vegetationsperiode sieht, was man erreicht hat. Hier wird deutlich, dass Arbeit nach seinem Verständnis vor allem dann sinnstiftend ist, wenn es einen Bezug zur realen Lebenswelt schafft. Somit deutet sich auch bei diesem Akteur ein erweitertes Arbeitsverständnis an.

 

Nur wie kommt es jetzt zu einer Transformation des Sektors Arbeit? Um diese Frage zu beantworten, lohnt es sich, eine übergeordnete Perspektive einzunehmen. Das erweiterte Arbeitsverständnis in Form des Tätigseins deutet sich, wie zuvor dargestellt, bei einigen Akteuren an. Allerdings ist dieses Denken und das damit verbundene Handeln (noch) ein Nischenphänomen. Damit sich diese Nischen weiterentwickeln und das erweiterte Verständnis von Arbeit nicht nur konzeptionell, sondern auch praktisch in der Mitte der Gesellschaft ankommt, bedarf es jedoch eines geebneten Entwicklungspfades. Betrachtet man jedoch eine höherliegende Ebene der sozioökonomischen und politischen Werte und Normen, so wird deutlich, dass hier konkrete legislative Maßnahmen und politischer Wille fehlen.

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Wie bereits im Stand des Wissens erwähnt, fehlen Vorschläge zum Umbau des Sozialsystems bei einem Rückgang der Erwerbsarbeit und dem Schrumpfen der Wirtschaftsleistung. Da sowohl das deutsche Sozialsystem als auch das Steuersystem enorm von Abgaben in Form von Erwerbseinkommen abhängig ist, müssen vor allem politische Entscheidungsträger hier die Notwendigkeit einer Reformierung dieser System im Hinblick auf die Postwachstumsdiskussion und die Überwindung der Abhängigkeit von Wachstum erkennen. Somit bedarf es übergeordneter Entwicklungen, welche die Abhängigkeit des Sozial- und Steuersystems von Erwerbseinkommen verringern und so ein Tätigsein ermöglichen.

 

Was gibt es zu tun?

Das Handlungsfeld Arbeit hat einen besonderen Stellenwert im Transformationsdiskurs, da es in jedem Teilgebiet vertreten ist und so nur schwer als einzelnes Thema betrachtet werden kann. Obwohl es mittlerweile viele Diskussionen zum Thema anders Arbeiten gibt, ist die Transformation im Sektor Arbeiten noch nicht so weit und eindeutig vorangeschritten wie in anderen Teilgebieten. Dies ist jedoch ein großes Problem, da angestrebte Transformationen in Bereichen wie Mobilität, Versorgung oder Wohnen oft durch die vergleichsweise nur gering fortgeschrittene Transformation im Sektor Arbeiten gebremst werden (vgl. Seidl und Zahrnt 2019, o.S.).

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Das Wachstumsinteresse, welches im Sektor Arbeiten besonders vorhanden ist um Arbeitsplätze zu erhalten und zu schaffen, unterbindet potenzielle Postwachstums-Transformationen, welche nur möglich werden, wenn sich die Werte in der Gesellschaft wandeln und der Fokus von der Erwerbsarbeit abweicht und hingelenkt wird zum Tätigsein. Zudem sind Top-Down-Maßnahmen erforderlich um die Rahmenbedingungen für diesen Wertewandel zu schaffen.

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Wie bereits zu Beginn erwähnt, wird sich bereits seit circa 30 Jahren mit dem Thema anders arbeiten beschäftigt, dennoch gibt es bis heute keine nennenswerten Veränderungen in der Gesellschaft und der Politik. Dies lässt vermuten, dass auch in näherer Zukunft nicht mit einem Wandel der Gesellschaft hin zum Tätigsein und weg von der Erwerbsarbeit und damit zu einer Transformation im Sektor Arbeiten zu rechnen ist.

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Literatur

Biesecker, A. / Baier, A. (2011): Gutes Leben braucht andere Arbeit – Alternative Konzepte in der Diskussion -In: Anders Arbeiten. Oekom Verlag. München. S.54-61.

 

Goehler, A. / Werner, G. (2011): Vom Sollen zum Wollen – Plädoyer für ein Bedingungsloses Grundeinkommen -In: Anders Arbeiten. Oekom Verlag. München. S.75-80.

 

Littig, B / Spitzer, M (2011): Arbeit neu. Erweiterte Arbeitskonzepte im Vergleich. Setzkasten GmbH. Düsseldorf.

 

Pothmer, B. (2011): Fortschritt made in Germany ist weiblich – Frauen und die Arbeitswelt In: Anders Arbeiten. Oekom Verlag. München. S.32-38.

 

Senghaus-Knobloch, E. (2011): Ein spannungsreiches Verhältnis – Ökonomisierte Arbeit und Sorgearbeit Arbeitswelt In: Anders Arbeiten. Oekom Verlag. München. S.26-31.

 

Seidl, I. / Zahrnt, A. (2019): Erwerbsarbeit, Tätigsein und Postwachstum. – In: Seidl, I. / Zahrnt, A. (Hrsg.): Tätigsein in der Postwachstumsgesellschaft. Metropolis, Weimar. S. 9-24.

 

Spangenberg, J. (2011): Die Grenzen der Natur setzen neue Signale- Arbeitsgesellschaft im Wandel -In: Anders Arbeiten. Oekom Verlag. München. S.15-24.

 

Wissenschaftsplattform Nachhaltigkeit 2030 (2020): Wege zu einer nachhaltigen Arbeitswelt: Abschlussbericht der Arbeitsgruppe „Zukunft der Arbeit“.

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